Stromerzeugung und Fischschutz mit einer Darrieus-Wasserturbine

In den Niederlanden gibt es küstennahe Hochwasserschutzanlagen, die sich auch für eine Energiegewinnung mit Gezeitenkraft nutzen lassen. Strenge Vorschriften erfordern neue Turbinenkonstruktionen. Um ein entsprechendes Rotordesign für den Kunden Water2Energy zu entwickeln, hat Physixfactor mittels Simulation eine Darrieus-Windturbine für die Wassernutzung angepasst. Im Vergleich zu konventionellen Wasserkraftturbinen konnte das Water2Energy-Design mit vertikaler Achse die Fischsterblichkeitsrate auf weniger als ein Prozent reduzieren.


Von Alan Petrillo
April 2021

"Hier in den Niederlanden sind wir ziemlich nah am Meer", sagt Helger van Halewijn und lächelt dann über sein Understatement. Die Nordsee (Noordzee) und die Niederländer sind unzertrennlich. Durch diese innige und turbulente Beziehung haben die Niederländer gelernt, widerstandsfähig und flexibel zu sein. Anstatt mit dem Wasser zu kämpfen, war es lange Zeit klüger, einen vorsichtigen Waffenstillstand auszuhandeln. Die berühmte holländische Landschaft aus Deichen, Kanälen und Poldern hält das Meer nicht auf, sondern lenkt den Wasserfluss in etwas Handhabbares - und Nützliches - um.

Dieser Einfallsreichtum lebt in den modernen niederländischen Infrastrukturprojekten und in den Menschen, die sie ermöglichen, weiter. „Wir wollen unsere Deiche nicht nur für den Hochwasserschutz nutzen. Sie können auch den Energiebedarf decken und helfen, die Fische und die Umwelt zu schützen“, sagt Helger van Halewijn, Direktor des Ingenieurbüros Physixfactor. Um diese Ziele zu erreichen, wandte sich das niederländische Unternehmen Water2Energy an van Halewijn, um die Modellierung einer vertikalachsigen Wasserturbine (VAWT) für den Einsatz in Hochwasserschutzbauten zu unterstützen. Mithilfe von Multiphysik-Simulationen optimierte er die VAWT von Water2Energy, um mehr elektrische Energie zu erzeugen und gleichzeitig mögliche Schäden für Meeresbewohner zu minimieren.

Die Technologie dieses Gezeitenkraftprojekts mag modern sein, ebenso wie die Betonung des Umweltschutzes, aber seine Wurzeln reichen tief in den fragilen (aber sorgfältig gehüteten) niederländischen Boden.

Zeeland und die Deltawerke: Der Schutz eines gefährdeten Ortes

Wenn es eine Region in den Niederlanden gibt, die dem Meer am nächsten liegt (und am stärksten davon betroffen ist), dann ist es wohl der Teil, der "Meer" im Namen trägt: Zeeland. Die westlichste und am dünnsten besiedelte niederländische Provinz ist auch ein Flussdelta, in dem die Schelde, die Maas und der Rhein in die Nordsee fließen. Mehr als ein Drittel der Gesamtfläche Zeelands besteht aus Wasser. Der lateinische Wahlspruch luctor et emergo oder "Ich kämpfe und tauche auf" wird im Wappen von Zeeland durch einen Löwen dargestellt, der aus den Wellen aufsteigt.

Selbst für niederländische Verhältnisse ist Zeeland besonders anfällig für Nordseestürme, und der Sturm von 1953, der heute als Watersnoodramp bekannt ist, hat die Region dauerhaft verändert. Eine Kombination aus Wind, Gezeiten und Sturmflut ließ den Meeresspiegel um mehr als 4 Meter über den Durchschnitt ansteigen, Deiche brechen und 165.000 Hektar Land überschwemmen. Mehr als 1800 Menschen kamen ums Leben und Zehntausende waren gezwungen, aus dem Gebiet zu fliehen. Die Niederlande reagierten mit dem Bau eines ausgeklügelten Systems von Dämmen und Barrieren in der gesamten Deltaregion.

In niederländischer Tradition schotteten diese Deltawerken das Meer nicht vollständig vom Land ab. Die Notwendigkeit des Schutzes vor periodischen Stürmen musste mit den alltäglichen Bedürfnissen der Region, einschließlich der Fischerei und dem Zugang zu den großen Häfen von Rotterdam und Antwerpen, Belgien, in Einklang gebracht werden. Daher kombinierten die Deltawerke einige feste Barrieren mit anderen halboffenen Strukturen, die sich nur bei einer drohenden Sturmflut schließen.

Feedback Loop: Die sich entwickelnden Prioritäten der Deltawerke

Wie bei einem so großen und komplexen Projekt nicht anders zu erwarten war, hat sich der Bau der Deltawerke über Jahrzehnte hingezogen (Abbildung 1). Die Prioritäten des Projekts haben sich in den über 70 Jahren seit seinem Beginn ständig weiterentwickelt. Die Deltawerke bieten nicht nur Schutz vor Meeresstürmen, sondern haben auch das regionale Ökosystem verändert - nicht immer zum Besseren. "In den 1950er und 60er Jahren, als das Projekt entworfen wurde, war es völlig neu. Niemand auf der Welt hatte zuvor ein Wasserwerk dieser Art gebaut", erklärt van Halewijn. "Die Sorge um die Umwelt war nicht so groß wie heute."

Abbildung 1. Die Niederlande mit der Provinz Zeeland und ihren wichtigsten Hochwasserschutzeinrichtungen. Originalbild von Zeeland in den Niederlanden von TUBS, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons. Das Originalbild wurde geändert.

Abgesehen von den oben erwähnten halboffenen Barrieren umfassten die ursprünglichen Deltawerke Dämme, die einige Flussmündungen abriegelten. Dadurch entstanden neue Grenzen zwischen salzigem Meerwasser und Süßwasser aus den Flüssen. Hinter den Dämmen wurden Gebiete, die zuvor den Gezeiten unterworfen waren, zu Süßwasserseen. "Heute sehen wir, dass das ein Fehler war", sagt van Halewijn. Seit den 1970er Jahren wurden in einer Reihe von Dämmen Schleusen eingebaut. Diese kontrollierten Durchlässe werden unter normalen Bedingungen offen gehalten und nur bei Stürmen geschlossen. Durch die Wiedereinführung der Gezeitenzyklen in den Becken hinter den Dämmen haben die Schleusen die salzigen Bedingungen wiederhergestellt, die von Austern, Muscheln und anderen Meeresbewohnern an der Küste bevorzugt werden.

ENCORE und Water2Energy: Erneuerbare Energie an gefährdeten Orten

Der durch den Klimawandel verursachte steigende Meeresspiegel bedroht die Küstenregionen weltweit. Die infrastrukturelle Expertise der Niederlande, die sie in jahrhundertelangen Erfahrungen mit der See erworben haben, ist daher global relevanter als je zuvor. In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass die Niederländer grenzüberschreitende Initiativen wie Energizing Coastal Regions with Offshore Renewable Energy (ENCORE) anführen.

ENCORE ist ein gemeinsames Projekt, das durch das Interreg 2 Seas Programm finanziert und vom Experten für erneuerbare Energien im Meer BLUESPRING geleitet wird. Das Projekt mit Partnern aus Großbritannien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden bekräftigt, dass 25 % des europäischen Energiebedarfs bis 2050 mit erneuerbaren Offshore-Quellen gedeckt werden könnten. Drei beteiligte Unternehmen entwickeln Offshore-Solarenergie, Wellenenergie-Technologie und eine Flussturbine. Das dritte Unternehmen, Water2Energy, will Strom aus den Gezeitenströmen durch die Schleusen der Deltawerke erzeugen.

Der Darrieus-Rotor: Die Adaption einer Windturbine für das Wasser

Ein Ort, der von unruhiger Strömung bestimmt ist, scheint ein ideales Umfeld für die Stromerzeugung aus Wasserkraft zu sein. Doch auch wenn die Erschließung der Gezeitenkraft einfach erscheint, stellen die tatsächlichen Bedingungen viele Herausforderungen dar. Konventionelle hydroelektrische Technologie (Abbildung 2) ist für die Installation in den Schleusen der Deltawerke ungeeignet. „Das gängigste Design für Wasserturbinen ist der Kaplan-Rotor“, erklärt van Halewijn. „Er sieht aus wie der Propeller, der ein Schiff antreibt. Er rotiert sehr schnell, und wenn man ihn in einem engen Raum wie den Schleusen in unseren Dämmen einsetzt, könnte er Fische und andere Meeresbewohner schädigen“. Zur Lösung dieses Problems hat Water2Energy stattdessen eine Wasserturbine mit vertikaler Achse (VAWT) entwickelt, die einen Rotor vom Typ Darrieus enthält (Abbildung 3).

Abbildung 2. Ein Beispiel für einen Kaplan-Turbinenrotor. Bild von Reinraum, CC0, über Wikimedia Commons.
Abbildung 3. Schematische Darstellung eines Darrieus-Rotors. Bild von Saperaud~commonswiki, CC BY-SA 3.0, über Wikimedia Commons. Das Originalbild wurde geändert.

Das Design des Darrieus-Rotors, für den Georges Jean Marie Darrieus 1926 ein Patent für den Einsatz in Windkraftanlagen erhielt, lässt sich auch für Wasseranwendungen nutzen. Aus Sicht von Water2Energy liegt der größte Vorteil eines Darrieus-Rotors gegenüber einem Kaplan-Rotor darin, dass seine offene Struktur und sein Bewegungsablauf weniger gefährlich für Fische sind. Wird er in der Lage sein, die ehrgeizigen Stromerzeugungsziele des ENCORE-Projekts zu erreichen? Um das Gleichgewicht zwischen maximaler elektrischer Leistung und minimaler ökologischer Belastung zu halten, mussten eine Reihe von Herausforderungen bewältigt werden, die die Konstruktion mit sich bringt.

Mit dem Strom schwimmen: Turbinenschaufeln optimieren ihren Anstellwinkel selbst

Bei der Gezeitenkraftturbine von Water2Energy betrafen die wichtigsten Designentscheidungen die Optimierung der vertikalen Rotorblätter (Abbildung 5). Van Halewijn nahm zwei technische Herausforderungen in Angriff, indem er sowohl das Design der Blätter als auch einen Mechanismus zur Einstellung ihrer Winkel testete und verfeinerte. Denn zum einen ist ein Darrieus-Rotor nicht immer selbststartend, auch nicht in einer Umgebung, in der das Wasser kontinuierlich fließt. Darüber hinaus ist eine Turbine, die in einem geschlossenen Durchgang installiert wird, wie z. B. in einer Schleuse eines Staudamms, mehr Turbulenzen ausgesetzt als in der freien Luft oder freien Gewässern.

Beide Herausforderungen können durch eine kontinuierliche Anpassung des Anstellwinkels der Turbinenblätter bewältigt werden. Mit der richtigen Ausrichtung zur Wasserströmung setzt sich die Schaufel eines Darrieus-Rotors schon bei sehr geringen Wassergeschwindigkeiten in Bewegung. Das Problem ist, dass der optimale Startwinkel der Schaufel ineffizient wird, sobald die Turbine bereits in Bewegung ist. Der Winkel kann zwar so optimiert werden, dass die Schaufel reibungslos an der Gehäusewand vorbeifährt, allerdings ist dieser Winkel bei anderen Drehpunkten der Schaufel nicht mehr effizient. Van Halewijn verwendete die COMSOL Multiphysics®-Software, um die Auswirkungen verschiedener Schaufelpositionen auf die Leistung zu modellieren.

Abbildung 4. Illustration des Water2Energy-Wasserturbinendesigns. Der Rotormechanismus, einschließlich der vertikalen Schaufeln, ist in Weiß dargestellt.

Dazu modellierte van Halewijn nur eine Schaufel der Turbine, um den optimalen Anstellwinkel zu finden. Um die turbulente Strömung an der Turbinenschaufel zu modellieren, probierte er verschiedene Berechnungsmethoden für Fluidströmungen in der COMSOL®-Software aus. Das Standard-k-ε-Modell war für das Problem nicht geeignet und führte nicht zu einer optimalen Leistungsabgabe. Das sogenannte SST-Modell kombiniert das k-ε-Modell in freier Strömung und das k-ω-Modell in Wandnähe, was zu guten Ergebnissen führte, aber zu lange zum Konvergieren brauchte. Daher entsprach das k-ω-Modell sowohl den Anforderungen des Projekts als auch den Rechenressourcen.

Nach der Strömungsmodellierung war van Halewijn in der Lage, ein optimales Schaufelprofil für das Projekt zu finden. „Ich erkläre Kunden immer, dass Simulationssoftware ein Entscheidungswerkzeug für Forschung und Entwicklung ist. Ich verkaufe keine Mathematik. Mit Simulation bin ich in der Lage, ein Projekt ohne Trial-and-Error in die richtige Richtung zu lenken. Was ich wirklich anbiete, sind fundierte Entscheidungen, die auf den Prinzipien der Physik basieren." sagt van Halewijn.

Abbildung 5. Fluidströmung durch die Water2Energy-Wasserturbine.
Abbildung 6. Plots der Strömung (links) und des Drehmoments (rechts) um die Turbinenschaufeln, modelliert in COMSOL Multiphysics®.

„Nachdem wir ein Profil für die Schaufel modelliert hatten, konnten wir die Schaufelbewegungen an den Kanalwänden simulieren (Abbildungen 5 und 6). Das bedeutete, dass wir das Netz der Schaufeloberfläche anpassen mussten, um jeden Schritt der 360-Grad-Drehung zu berücksichtigen“, erklärt van Halewijn. „Ich konnte die Software gezielt dahingehend einsetzen, die Energieerzeugung in der Entwurfsphase zu maximieren. Und natürlich mussten wir die Passage von Fischen durch die Turbine simulieren, um zu zeigen, dass das maritime Leben nicht geschädigt wird, auch nicht bei Prototypentests.“

Effizient und fischgerecht: Live-Tests bestätigen das Potenzial des neuen Designs

In einem Schleusenkanal der Deltawerke (Abbildung 7) führte Water2Energy einen Live-Test des VAWT-Mechanismus mit verstellbaren Schaufeln durch. Die Tests zeigten, dass die neu gestaltete Turbine das bestehende Design mit festen Schaufeln in puncto Leistungsabgabe um mehr als 40 % übertraf.

Abbildung 7. Der Water2Energy-Wasserturbinen-Prototyp, kurz vor dem Praxistest.

Ebenso bedeutsam war die Tatsache, dass die Darrieus-Rotorturbine Gezeitenströmungen in elektrischen Strom umwandeln kann und dabei gleichzeitig das Meeresleben schützt. Bei Turbinen mit Kaplan-Rotoren werden in der Regel bis zu 20 % der vorbeischwimmenden Fische von den schnell drehenden Schaufeln getötet. Die Water2Energy-Turbine, die durch van Halewijns Modellierungsarbeit optimiert wurde, reduziert die Sterblichkeitsrate auf weniger als 1 %. Im Schleusenkanal installierte Kameras zeigen anschaulich, wie die vertikal verstellbaren Schaufeln wie vorgesehen arbeiten, während Forellen sicher vorbeischwimmen.

Nachdem Water2Energy die Wirksamkeit ihres Konzepts nachweisen konnte, arbeitet es nun an der Vermarktung seines Potenzials. Ein Konsortium namens Klimakraftwerk Zeeland schlägt vor, ein Gezeitenkraftwerk in Zeelands Grevelingendam zu bauen. Eine der vorgeschlagenen Lösungen könnte bis zu 6 Water2Energy-Turbinen mit einer Gesamtleistung von 1,6 MW nutzen, um Strom für etwa 1000 Haushalte zu erzeugen.

Eine poetische (aber pragmatische) Auseinandersetzung mit dem steigenden Meer

Obwohl er gerne die Einzelheiten seines Gezeitenkraftwerksprojekts mit uns teilt, erinnert uns van Halewijn auch daran, eine breitere Perspektive einzunehmen: "Bei dieser Geschichte geht es nicht nur um Simulation", sagt er. "Man muss sie in den Kontext der Probleme stellen, mit denen wir heute konfrontiert sind."

Aus dieser Perspektive können wir die größere Bedeutung dieser Arbeit erkennen, die von kleinen Unternehmen in einem kleinen Land geleistet wird. Das Wohlergehen der Welt könnte jetzt von unserer Fähigkeit abhängen, mit den Naturgewalten zu verhandeln, ob diese Kräfte nun so gewaltig sind wie ein Nordseesturm oder so klein - aber bedeutsam und sogar inspirierend - wie eine Forelle, die sicher mit der Flut hinausschwimmt. Van Halewijn sagt: "Wir suchen nach einer Win-Win-Situation".

Danksagung

Wir danken Peter Scheijgrond von BLUESPRING für den Review dieses Artikels.

Water2Energy

BLUESPRING

ENCORE

Über das ENCORE Projekt

Ziel des ENCORE-Projekts ist es, vier Offshore-Technologien für erneuerbare Energien - einen Wellenenergiekonverter, eine Gezeiten- und Flussströmungsturbine sowie schwimmende Offshore-Solaranlagen - in einem strukturierten und gemeinschaftlichen Prozess voranzubringen und Open-Source-Tools und -Dienste zu entwickeln, um die beschleunigte Einführung von Offshore-Energielösungen für Inseln, Häfen, Flussmündungen und Offshore-Strukturen zu erleichtern, wobei der Schwerpunkt auf der Interreg-2-Seas-Region und den Exportmöglichkeiten liegt.

Das ENCORE-Projekt erhält Mittel aus dem Interreg-2-Seas-Programm 2014-2020, das vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung unter dem Subventionsvertrag Nr. 2S08-004 kofinanziert wird. Auch die Provinzen Süd- und Nordholland und Zeeland bieten finanzielle Unterstützung an.

Der federführende Partner und Koordinator BLUESPRING bringt Projektpartner aus 4 europäischen Ländern zusammen: Water2Energy (NL), EEL Energy (FR), Oceans of Energy (NL), Teamwork Technology (NL), Dutch Marine Energy Centre (NL), das European Marine Energy Centre (UK), Artelia (FR), Bureau Veritas (FR), Ghent University (BE), Inyanga (UK) und Deftiq (NL).

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde am 7. Februar 2023 aktualisiert, um die Namensänderung einer Organisation zu berücksichtigen.

Four logos of members of the ENCORE project.