Frischevorhersagen mit Simulations-Apps
Die Schweizer Forschungsorganisation Empa hat Modelle entwickelt und eine Simulations-App kompiliert, deren Ergebnisse in eine Smartphone-App einfließen, die von Landwirten und Händlern zur Vorhersage der Haltbarkeit von frischem Obst und Gemüse genutzt wird. Die Arbeit dient der Unterstützung einer multinationalen Koalition, deren Ziel es ist, die Nutzung von gekühlten Lebensmitteln in Entwicklungsländern zu verbessern.
Von Rachel Keatley
September 2023
Der Weg von Frischwaren nach der Ernte ist das schwächste Glied in der globalen Lebensmittelversorgungskette. Jedes Jahr verdirbt weltweit etwa ein Drittel der für den menschlichen Verzehr produzierten Lebensmittel (Ref. 1). Probleme bei der Kühlverteilung und -lagerung spielen bei diesen Verlusten eine große Rolle, vor allem in Entwicklungsländern wie Indien, wo nur 6 % der Lebensmittel in die Kühlkette gelangen (Ref. 2) und somit leicht verfallen. Gegenwärtig wird der knappe Platz in der Kühlung, wie zum Beispiel kleine, solarbetriebene Kühlräume (Abbildung 1), möglicherweise von Ernten belegt, die den idealen Frischezustand bereits überschritten haben, während andere Sendungen verderben, während sie auf den Zugang zu einem Kühlraum warten.
Als Teil eines multinationalen Konsortiums von Akteuren der Lebensmittelversorgungskette haben die Schweizer Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) und die Basel Agency for Sustainable Energy (BASE) Coldtivate entwickelt, um diese Probleme zu mindern. Coldtivate ist eine mobile App, die ihre Nutzerinnen und Nutzer in Echtzeit über den Kühl- und Verfallsprozess verschiedener Obstsorten informiert. Die App wurde Ende 2022 in drei Regionen Indiens und 2023 in Nigeria eingeführt und basiert auf Multiphysik-Simulationen. Die Landwirte, die die App nutzen, sehen die zugrundeliegenden Multiphysik-Modelle nicht und interagieren auch nicht direkt mit der Simulations-App: Sie erhalten die Ergebnisse durch die Coldtivate-App in einer Form, die für sie umsetzbar ist.
Simulationsbasierte Vorhersagen zur Optimierung der Lebensmittellagerung
Die Coldtivate-App liefert datengestützte Prognosen über die Frische von Produkten in einem Kühlraum. Diese Vorhersagen werden von einer Simulations-App (Abbildung 2) weitergegeben, die Empa mit der Software COMSOL Multiphysics® und dem darin enthaltenen Application Builder erstellt hat.
Simulations-Apps sind einfach zu bedienende Benutzeroberflächen, die aus bestehenden COMSOL-Modellen erstellt werden, wobei der Entwickler der App entscheidet, welche Eingaben und Ausgaben angezeigt werden sollen. Die Simulations-Apps sind bereits gebrauchsfertig, aber Empa und BASE wollten die Daten ihrer Simulations-App auf eine Art und Weise weitergeben, die ihren Endnutzern, hauptsächlich Landwirten, am vertrautesten ist. Da mobile Apps in der modernen landwirtschaftlichen Praxis weit verbreitet sind (Ref. 3), entwickelten sie Coldtivate speziell für ihre Nutzer.
„Unsere COMSOL-App läuft auf demselben Headless-Server, auf dem auch die mobile App läuft“, erklärt Joaquin Gajardo, Data Scientist an der Empa und technischer Leiter des Coldtivate-Projekts. Dadurch ist es möglich, Informationen zwischen der Simulations-App und der mobilen App hin und her zu schicken. „Wir haben den Application Builder eingesetzt, um die Aktualisierung von Simulationen auf der Basis von veränderten Eingabeparametern [in der mobilen App] zu automatisieren“, sagt Gajardo. So werden die Fähigkeiten des Multiphysik-Modells der Empa mit dem Komfort einer speziell entwickelten mobilen App kombiniert. Damit die Simulations-App auf diese Weise genutzt werden kann, wurde sie zunächst mit COMSOL Compiler™ zu einer eigenständigen ausführbaren Datei kompiliert.
„Ohne den Application Builder wäre es unmöglich gewesen, die digitalen Zwillinge in eine mobile App zu verwandeln und diese Multiphysik-Simulationen und ihre Ergebnisse einem breiteren Nutzerkreis, wie zum Beispiel Kleinbauern, zugänglich zu machen“, sagt Thijs Defraeye, leitender Wissenschaftler der Empa und Professor an der Wageningen University & Research.
Das Modell hinter der Simulations-App
Die Umgebungstemperatur hat einen direkten Einfluss auf die Haltbarkeit von Frischwaren. Zwar befinden sich in den meisten Kühlräumen Thermometer, aber die Daten, die sie liefern, reichen nicht aus, um vorherzusagen, wie lange Obst oder Gemüse haltbar ist.
„Wir können die zu erwartende Lebensdauer der Produkte nicht mit einer einzigen Temperatur- oder Luftfeuchtigkeitskurve aus einem Kühlraum bestimmen“, so Defraeye. „Das COMSOL-Modell jeder Kiste erhält aktuelle Temperatur- und Feuchtigkeitsdaten aus den Kühlräumen und ermöglicht so eine regelmäßige Neuberechnung der verbleibenden Haltbarkeitsdauer.“ Auf diesem Modell basiert die Simulations-App der Empa.
Außerdem spiegelt ein Sensor in einem Teil des Lagerraums nicht unbedingt die Temperatur auf der Oberfläche eines Apfels wider, der in einer Kiste vergraben ist, insbesondere wenn diese Kiste erst vor kurzem nach drinnen gebracht wurde.
Um ein umfassenderes Bild davon zu erhalten, wie sich unterschiedliche Lagerungsbedingungen auf jede einzelne Lieferung auswirken können, erweitert Empa derzeit die Modelle, um ganze Lieferungen verschiedener Obst- und Gemüsesorten mit COMSOL Multiphysics® zu modellieren (Abbildung 3). „Wir verwenden einen Modellierungsansatz für poröse Medien, um aus den Messwerten der Sensoren verwertbare Metriken zu generieren“, sagt Defraeye.
Die App in Aktion
„Angenommen, eine neue Lieferung kommt in einem Kühlraum an“, erläutert Gajardo. „Ein Mitarbeiter öffnet die Coldtivate-App auf seinem Handy und gibt die Art des Produkts, die aktuelle Temperatur, die Tage seit der Ernte und andere relevante Werte ein. Die mobile App generiert dann eine Textdatei mit diesen Informationen. Die Werte in dieser Textdatei dienen als Eingabeargumente für die COMSOL-App, die dann die erwartete Haltbarkeit berechnet. Diese Berechnung wird dann in eine Ausgabedatei geschrieben, und die verbleibende Qualität und Anzahl der Tage werden in der Benutzeroberfläche der mobilen App angezeigt.“
Alle sechs Stunden werden die in der Coldtivate-App angezeigten Werte mit aktualisierten Prognosen auf der Grundlage der neuesten Kühlraumtemperaturdaten neu berechnet (Abbildung 4). Die Landwirte können die verbleibende Haltbarkeitsdauer ihrer Kisten direkt in der mobilen App überprüfen. Wenn sie kein Smartphone haben, „können die Lagerhausbetreiber sie darüber informieren, wie lange ihre Produkte im Kühlraum frisch bleiben“, so Gajardo. Letztlich helfen diese Informationen den Landwirten, Notverkäufe und die unnötige Entsorgung von unverkauften Produkten zu vermeiden.
Teamarbeit führt zu verlässlichen Daten
Defraeye und sein Team an der Empa haben jahrelang an der Entwicklung ihrer Datenerfassung und Modellierung gearbeitet. „Anfang 2021 hatten wir bereits Modelle [zur Analyse der Frische von Lebensmitteln] entwickelt, aber sie waren noch nicht in den tatsächlichen Lieferketten eingesetzt worden“, so Defraeye. Anfragen von gemeinnützigen globalen Entwicklungsorganisationen gaben den Anstoß zur Entwicklung der Coldtivate-App (Abbildung 5).
„Wir wurden von BASE kontaktiert, einem Unternehmen, das innovative Geschäftsmodelle entwickelt, um Landwirten zu helfen, die verfügbaren Ressourcen besser zu nutzen“, so Defraeye. „Die Idee war, ein Pay-per-Use-Geschäftsmodell mit Intelligenz zu kombinieren, die den Zugang zu Kühlung verbessern könnte. Dazu brauchten wir weitere Partner mit engen Verbindungen zu den Menschen, denen wir helfen wollten.“ Zu diesen Partnern gehörten Kühlunternehmen und andere Interessengruppen in den indischen Bundesstaaten Bihar, Himachal Pradesh und Odisha, die sich BASE und Empa in einer Initiative namens Your Virtual Cold Chain Assistant (Your VCCA) angeschlossen haben.
„Vertrauen ist das A und O“, so Defraeye. „Die Simulationen ermöglichen es uns, einen Blick darauf zu werfen, was mit den Produkten im Lauf der Zeit passiert, und die Smartphone-App gibt diese Informationen an Personen weiter, die sie nutzen können, zum Beispiel an Kühlraummanager oder Landwirte. Ziel ist es, die Transparenz an der Verkaufsstelle zu erhöhen, wo sie einen großen Unterschied machen kann. Wenn die Landwirte und Kühlraumbetreiber der Vorhersage vertrauen können, stärkt das auch das gegenseitige Vertrauen.“
Coldtivate im Feld
Im August 2022 wurde die Coldtivate-App ausgewählten Kühlunternehmen zur Verfügung gestellt, zusammen mit einer Schulung für Kühlraummanager, wie sie die App zur Überwachung der Produkte in ihren Einrichtungen nutzen können (Abbildung 6). Bis heute wurde die simulationsgestützte App in 17 Kühlräumen mit mehr als 300 Landwirten erprobt, die von einer 20-prozentigen Steigerung ihres Einkommens und einer Reduzierung der Lebensmittelverluste nach der Ernte um 20 % berichten. Die Empa und ihre Partner arbeiten nun daran, die Reichweite von Coldtivate zu erhöhen.
Künftige Versionen der App werden weitere relevante Informationen liefern, wie zum Beispiel Marktpreisprognosen und sogar Vorhersagen über die Qualität der Ernte auf der Grundlage von Fotos. Nun arbeiten BASE und Empa mit Organisationen in Nigeria und auf den Philippinen zusammen, um die Vorteile von Coldtivate in weiteren Teilen der Welt zu nutzen (Ref. 4).
Das Ausmaß der weltweiten Ernteverluste ist erschreckend, aber die Koalition, die hinter dem Coldtivate-Projekt steht, hat bewiesen, dass Fortschritte in Reichweite sind. „Wir sehen, wie der Zugang zu simulationsbasierten Prognoseinstrumenten den Zugang zu Kühlung verbessern kann“, sagte Defraeye. „Jetzt brauchen wir mehr als nur kleine Schritte; wir müssen mutig agieren, um unseren Einfluss zu vergrößern. Dies erreichen wir, indem wir die Technologie in die Hände von mehr Menschen geben, die sie nutzen können, um etwas zu bewirken.“
Danksagung
Die Entwicklung von Coldtivate wurde teilweise durch den data.org Inclusive Growth and Recovery Challenge Grant „Your Virtual Cold Chain Assistant“ finanziert, der von der Rockefeller Foundation und dem Mastercard Center for Inclusive Growth unterstützt wird, sowie durch das Projekt „Scaling up Your Virtual Cold Chain Assistant“, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Auftrag gegeben und von BASE und Empa im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) durchgeführt wird. Das Projektteam dankt den Hauptprojektpartnern Koel Fresh Private Ltd., Oorja Development Solutions India Private Ltd. und ColdHubs Ltd. für ihren Beitrag zum Testen und zur Feinabstimmung des Haltbarkeitsmodells.
Referenzen
- Food and Agriculture Organization of the United Nations, "The Role of Producer Organizations in Reducing Food Loss and Waste," 2012; https://www.fao.org/3/ap409e/ap409e.pdf
- Basel Agency for Sustainable Energy, "Your Virtual Cold Chain Assistant: India," 2022; https://energy-base.org/projects/your-virtual-cold-chain-assistant/
- Basel Agency for Sustainable Energy, "BASE and Empa Release the First Version of the Coldtivate Mobile App," Aug. 2022; https://energy-base.org/news/base-and-empa-release-the-first-version-of-the-coldtivate-mobile-app/
- L. You, S. Schudel, and T. Defraeye, "Developing of Biophysical Food for Monitoring Postharvest Supply Chains for Avocado and Potato and Deploying of Biophysical Apple," Journal of Food Engineering.
- Your Virtual Cold Chain Assistant, "The Power of Data to Drive Resilient Agriculture in India," 2022; https://yourvcca.org/india/
- Cool Coalition, "Sustainable Cooling to Make Post-Harvest Management Affordable for Indian Farmers," Aug. 2022; https://coolcoalition.org/sustainable-cooling-india/