Entwicklung des Gold-Standards für immersives Audio in Virtual-Reality-Spielen

Tectonic Audio Labs entwickelte einen hochmodernen Balanced-Mode-Radiator-Lautsprecher mithilfe von Elektromagnetik-, Mechanik- und Akustik-Simulationen. Der BMR-Lautsprecher kommt in einem Virtual-Reality-Headset der Valve Corporation zum Einsatz.


Von Julia Abrams
Oktober 2020

Die virtuelle Realität (VR) lässt den Benutzer tief in die virtuelle Welt eintauchen. Dabei soll sich alles so real wie möglich anfühlen. Wenn Virtual Reality richtig umgesetzt wurde, können Nutzer von ihrem Sofa aus historische Orte besuchen, in einem Museum Lebensräume längst vergangener Zeiten betreten und sogar den Mars oder den Mond bequem vom Wohnzimmer aus erkunden.

Die Spieleindustrie macht große Fortschritte in der VR-Entwicklung; dennoch ist es für Spieleentwickler eine Herausforderung, die Suspension of Disbelief – also die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit – in der virtuellen Welt effektiv zu erreichen.

Ob man VR nutzt, um einen sich der Erde nähernden Asteroiden zu untersuchen, oder ob man ein Spiel spielt, in welchem man diese Asteroiden mit Raketen zerstören muss – je immersiver das Erlebnis ist, desto besser ist es für den Anwender. Andere Unterhaltungsbereiche, wie Literatur und Film, stehen vor vergleichbaren Herausforderungen bei der Aussetzung der Ungläubigkeit. Aber es gibt einen Aspekt, der exklusiv im Bereich der VR eine Rolle spielt: die Audio-Immersion.

Audio-Immersion mit VR-Headset

Die Valve Corporation ist ein führender Entwickler in der Gaming-Branche, der Spiele, Gaming-Plattformen und Gaming-Hardware herstellt. Das Valve-Index-VR-Headset des Anbieters soll eine Suspension of Disbelief ermöglichen. Um dies zu erreichen, mussten die Valve-Ingenieurin Emily Ridgway und ihr Team herausfinden, wie man ein immersives Audioerlebnis schaffen kann.

Beim Spielen von Videospielen tragen Menschen oft Stereokopfhörer, um Geräuschquellen räumlich orten zu können. Befindet sich die Quelle links von der Spielfigur, hört der Spieler den Ton über den linken Kopfhörerlautsprecher und umgekehrt. Das Valve-Team entschied sich gegen die Verwendung von herkömmlichen Kopfhörern, da diese den Klang isolieren, Geräusche unterdrücken und Frequenzgänge überbetonen. Sie erzeugen keine Audio-Immersion. Ridgway war besorgt, dass das physikalische Design von Kopfhörern der Audio-Immersion entgegenwirken könnte. Zum einen wird der Klang über Kopfhörer direkt in den Gehörgang geleitet, so dass der Klang häufig als imaginär (als internalisierte Hörquelle), aus dem Kopf der Person kommend oder anderweitig „nicht real“ empfunden wird. Außerdem können sich Kopfhörer unangenehm anfühlen, und dieses Unbehagen kann den Benutzer vom Spielerlebnis ablenken.

Manche Gamer entscheiden sich deshalb für Lautsprecher, die zwar einige dieser Kopfhörer-spezifischen Probleme abmildern, aber dafür andere Probleme verursachen. Der Klang eines Lautsprechers wird durch die Geometrie und Akustik der umgebenden Räumlichkeit beeinflusst. Problematisch ist zudem, dass Lautsprecher einen „Sweet Spot“ haben, in dem sich der Spieler für die beste Klangqualität stets aufhalten muss. Doch VR-Spieler neigen dazu, sich während des Spiels im Raum zu bewegen.

Emily Ridgway hat für all das eine Lösung: Vor den Ohren platzierte (extra-aurale) Ultra-Nahfeld-Kopfhörer mit vollem Frequenzbereich. Ridgway und ihr Team prüften verschiedene Arten von Lautsprechern für das Headset. Keiner passte aber so recht zu ihren Zielen, bis sie auf die BMR-Lautsprecher (Balanced Mode Radiator) von Tectonic Audio Labs gestoßen ist. Ridgway „bemerkte sofort mehrere positive Vorteile“, wie sie in einem Blog-Beitrag betonte. „Die BMR-Lautsprecher reduzierten die Klangverfärbung aufgrund von Fehlpositionierungen, waren im Bereich unseres Zielgewichts, hatten einen großartigen Frequenzgang im Hoch-Mittelbereich (wichtig für binaurale Simulationen) und waren zudem noch viel dünner als herkömmliche Lautsprechertreiber“, erläuterte die Ingenieurin. Valve hat sich mit Tectonic Audio Labs zusammengetan, um diese Vorteile zu nutzen und maßgeschneiderte Lautsprecher für sein VR-Headset zu entwickeln.

Abbildung 1. Schnittdarstellung des BMR-Lautsprechers.

Auf Biegewellen setzen

In herkömmlichen Lautsprechern wird der Ton durch eine sich kolbenförmig bewegende Konusmembran erzeugt. Diese Bewegung überträgt Energie entlang der Bewegungsachse und erzeugt Schall. BMR-Lautsprecher arbeiten anders, da sie Biegewellen nutzen: Wellen, die sich senkrecht zur Ausbreitungsrichtung bewegen. Sie haben damit eine größere Wechselwirkung mit der Luft und können so mehr Energie übertragen. Bei herkömmlichen Lautsprechern gestaltet sich die Handhabung höherer Frequenzen schwieriger, weil sie die Membran zum Kräuseln oder Verbiegen bringen können, was auch als Konusbruch bekannt ist. Die daraus resultierenden Pegelspitzen und -tiefs vermindern die Audioqualität und erhöhen die Platzierungsempfindlichkeit. Während die meisten Lautsprecher versuchen, Biegewellen zu vermeiden, setzt BMR sie gezielt ein.

„Wir begrüßen die Biegemoden und wollen, dass sie auftreten. Wir können steuern, wo sie auftreten, und es sind diese Biegemoden, die für den Off-Axis-Output sorgen. Wir nutzen den Resonanzzerfall zu unserem Vorteil“, sagt Tim Whitwell, Vice President of Engineering bei Tectonic Audio Labs und ergänzt: „BMR steht den Denkweisen der traditionellen Akustiktechnik entgegen."

Die BMR-Technologie ist in der Lage, diese hochfrequente Welligkeit durch die Optimierung mehrerer Eigenschaften, zum Beispiel der Materialauswahl und der Massenverteilung, auszunutzen. Durch die Ausnutzung der Biegemoden und die Überlagerung von Biege- und Kolbenmoden wird der Schall im BMR-Lautsprecher gleichmäßig ausgebreitet.

Optimierungen durch Simulation

Das Team von Tectonic Audio Labs hat sich an die Arbeit gemacht und die Lautsprecher für das Valve-Index-VR-Headset entwickelt. „Am Anfang stand die Analyse der modalen Struktur der Membran“, erläutert Whitwell. „Uns kommt es beim BMR darauf an, sicherzustellen, dass das modale Verhalten genau dann beginnt, wenn die durch die Kolbenbewegung hervorgerufene Abstrahlung einsetzt.“ Sobald die Abstrahlung beginnt, setzt das Biegemodalverhalten ein, wodurch die außermittige Leistung der Abstrahlung „aufgefüllt“ wird.

Um dieses Verhalten zu optimieren, musste das Tectonic-Team zunächst herausfinden, wo genau das Biegemodalverhalten auftritt und wie viele Biegemoden über die Bandbreite auftreten. Mit Hilfe der Software Comsol Multiphysics wurde eine Eigenfrequenzanalyse dieses Verhaltens durchgeführt, und so war das Entwicklerteam in der Lage, die Biegemoden durch Optimierung der Dicke und des Materials der Lautsprechermembran zu kontrollieren. Indem man sicherstellt, dass dieses Verhalten genau zum gewünschten Zeitpunkt am gewünschten Ort auftritt, ist Tectonic Audio Labs in der Lage, das breite Abstrahlverhalten des Lautsprechers über den gesamten Bereich zu erhalten.

Abbildung 2. Richtcharakteristik und Polardiagramme für die BMR-Lautsprecheranalyse.

Tectonic analysierte auch das Motordesign und führte eine elektromagnetische Analyse zur Optimierung der Schwingspule durch. „Man kann viele Windungen in den Schwingspulendraht einbringen, um die Umwandlung von elektromagnetischer in mechanische Energie zu erhöhen, aber das Gewicht steigt, so dass man hier gegenläufige Faktoren hat“, erklärt Whitwell. „All diese Optimierungen führen wir in Comsol durch.“

Die mechanischen und elektromagnetischen Modelle wurden separat beabeitet und optimiert. Der nächste Schritt von Tectonic Audio Labs war, beides für eine gekoppelte Analyse zusammenzubringen. Da fast alles im Modell achsensymmetrisch ist, konnten sie die Kopplung in einem achsensymmetrischen 2D-Raum modellieren und so Rechenressourcen sparen. Eine Ausnahme bildete das Membranmaterial. „Das Membranmaterial selbst ist eigentlich orthotrop; es hat unterschiedliche Steifigkeiten in verschiedenen Richtungen“, so Whitwell. „Mit dem Solid Mechanics Interface in Comsol Multiphysics konnten wir die orthotrope Natur des Materials im achsensymmetrischen 2D-Raum modellieren."

Nachdem das Team ein vollständig gekoppeltes Modell entwickelt hatte, führte es weitere Elemente ein, wie die Spinnenaufhängung, die die Spule zentriert und ihre Bewegung kontrolliert. Gleichzeitig optimierten die Entwickler das vollständig gekoppelte Modell weiter, um sicherzustellen, dass das Verhalten der Membran ausbalanciert sein würde – was der Schlüssel zur BMR-Technologie ist, damit diese im Valve-Index-VR-Headset richtig funktioniert und ein großartiges Hör-Erlebnis für verschiedene Benutzer bietet.

Abbildung 3. Vollständig gekoppeltes BMR-Modell, das die magnetische Flussdichte im Motor und die Gesamtauslenkung in den beweglichen Teilen (Membran, Spulenrand und Spinne) bei 5 kHz visualisiert.

Sobald die Lautsprecher vollständig eingestellt waren, ist die Aufhängung das nächste Ziel, und ihre Geometrie wurde in einer nichtlinearen Studie analysiert. „Wir verformten die Aufhängungsgeometrie nach oben und unten, um zu sehen, wie sich die Steifigkeit dieser Komponenten mit der Auslenkung änderte“, so Whitwell. „Und auch hier war eine Menge Optimierung erforderlich.“ Whitwell betonte, dass diese Optimierung bei diesem Projekt besonders wichtig war: „Geräusche in der Antriebseinheit oder Verzerrungen wären für den Hörer sehr auffällig.“ Nachdem man die Aufhängung vollständig optimiert hatte, ging sie zurück in das gekoppelte Modell. „Sobald wir sichergestellt hatten, dass die gewünschte Leistung erbracht wurde,“ sagte Whitwell, „konnten wir loslegen und einen Prototyp bauen."

König der VR-Headsets

Nach der erfolgreichen Design-Optimierung und dem Prototyping seitens Tectonic Audio Labs konnte die Valve Corporation ihr Headset auf den Markt bringen. Die vielen positiven Kritiken bescheinigen den Erfolg. Ein Beispiel dafür ist der beliebte YouTube-Kanal Linus Tech Tips, der vom namensgebenden Linus betrieben wird. Die Videothemen reichen von der Erklärung, ob mehr Arbeitsspeicher einen Computer schneller macht, bis hin zur Besprechung von kürzlich erschienenen kabellosen Tastaturen und sogar dem Bau eines PC-Tower-Gehäuses aus Pappe. Und natürlich werden auch verschiedene VR-Headsets getestet.

Im August 2019 lud Linus ein Video mit dem Titel „Maybe VR isn‘t dead after all...“ hoch, in welchem er das Valve-Index-Headset testete. Er war zunächst zwiespältig gegenüber den Lautsprechern, aber nach einem Tag aktiver Nutzung des Headsets war Linus beeindruckt: „Ein Lob an die Lautsprecher“, sagte er etwas ungläubig und kommt zum Ergebnis: „Sie klingen tatsächlich schockierend gut!“ Linus verbringt den Rest des Videos damit, die Spezifikationen des Headsets zu erläutern. Am Ende des Videos hält Linus das Headset von Valve Index hoch, schaut direkt in die Kamera und sagt: „Das ist absolut der König der VR-Gaming-Headsets.“


Valve Index ist ein eingetragenes Warenzeichen der Valve Corporation.