Laborkurse für Fernstudierende: Simulations-Apps machen es möglich

Seit den ersten Simulationen auf Computern sind die Modellierungswerkzeuge sehr viel benutzerfreundlicher geworden. Der Anwenderkreis, der sie tatsächlich durchführen kann, besteht aber immer noch aus relativ wenigen Spezialisten. Erst die Einführung von Simulations-Apps hat diese Einschränkung durchbrochen und die alltägliche Nutzung von Simulation und Modellierung auch für Nicht-Experten ermöglicht. Die stärkere Verbreitung der Simulation kommt sowohl Hochschulen zugute, die nun virtuelle Experimente durchführen können, als auch Industrieunternehmen, in denen Produktspezialisten nun virtuell arbeiten können - und nicht nur Kollegen, die in numerischer Analyse geschult sind.


Von Rachel Keatley
März 2021

Die durchschnittliche menschliche Aufmerksamkeitsspanne ist kürzer als die eines Goldfisches. Vielleicht haben Sie diese Statistik schon einmal gehört, aber stimmt sie auch? Die zum Nachdenken anregende Erkenntnis tauchte im Jahr 2015 in Hunderten von Schlagzeilen auf, aber Skeptiker waren zu Recht nicht überzeugt. Die Behauptung ist nämlich fehlerhaft: Nach Ansicht vieler Forscher ist die menschliche Aufmerksamkeitsspanne viel zu komplex, um sie auf eine Zeitspanne zu reduzieren (Ref. 1).

Auch wenn die Aufmerksamkeitsspanne eines Menschen nicht mit der eines Goldfisches vergleichbar ist, gibt es mehr digitale Inhalte als je zuvor, und die Art und Weise, wie Menschen sich konzentrieren, verändert sich. Um ein Publikum zu gewinnen, zu unterhalten und zu begeistern, ist es wichtig, eine fesselnde Geschichte zu erzählen. Für Lehrer, Dozenten und Professoren ist es besonders wichtig, diese Fähigkeit zu verinnerlichen, da sie ihre Studierenden oft 50 bis 90 Minuten pro Unterrichtsstunde bei Laune halten müssen.

Für viele Lehrkräfte wurde es im März 2020 noch schwieriger, die Aufmerksamkeit ihrer Studierenden aufrechtzuerhalten, als die Hochschulen (und die ganze Welt) aufgrund der raschen Ausbreitung von COVID-19 geschlossen wurden und viele Lehrveranstaltungen online stattfanden. Am New Jersey Institute of Technology (NJIT) hat Roman Voronov, außerordentlicher Professor für Chemie- und Biomedizintechnik, 15 benutzerfreundliche Simulations-Apps entwickelt, mit denen die Professoren des NJIT grundlegende technische Konzepte und Laborkurse virtuell und ansprechend vermitteln können - unabhängig davon, wo sich die Studierenden gerade befinden.

Simulation innerhalb (und außerhalb) des Hörsaals

Roman Voronov gibt Kurse über Transportphänomene, Wärme- und Stoffübertragung und Techniken zur Prozesssimulation. „In meinem Kurs über Wärme- und Stofftransport wollte ich meine Studierenden im Rahmen eines Projekts mit der Software COMSOL Multiphysics®, einer numerischen Simulationssoftware, vertraut machen. Sobald ich ein Problem in COMSOL® gelöst hatte, waren alle begeistert: 'Es ist so viel einfacher zu verstehen, weil ich direkt sehen kann, was passiert'“, erzählte Voronov.

Darüber hinaus hält Voronov es für wichtig, seine Studenten mit fortschrittlichen Berechnungswerkzeugen vertraut zu machen, da dies ihnen einen einzigartigen Vorteil im Berufsleben verschafft. „Es ist nicht nur zum Spaß: Wenn sie wissen, wie man eine solche Technologie einsetzt, ist das eine Fähigkeit, die sie nach ihrem Abschluss nutzen können“, so Voronov. Nachdem er die positiven Auswirkungen der Simulationstechnologie auf seine Studierenden gesehen hatte, wollte Voronov diese Werkzeuge Lernenden und Lehrenden auf der ganzen Welt zugänglicher machen – bereits bevor der Ausdruck „Fernunterricht“ zu einem geflügelten Wort wurde.

Eine Bibliothek mit Simulations-Apps für Studierende

Im Laufe des Jahres 2020 arbeiteten Voronov und seine Studierenden an einer Bibliothek mit mehreren standalone ausführbaren Simulations-Apps. Sie erstellten diese einfach zu bedienenden Apps mit dem Application Builder, einem Werkzeug in COMSOL Multiphysics® zur Erstellung intuitiver Benutzeroberflächen aus Modellen, bei denen der App-Designer entscheiden kann, welche Ein- und Ausgaben verfügbar sein sollen. Jede App wurde mit dem COMSOL Compiler™ Bereitstellungs-Tool zu einer eigenständigen ausführbaren Datei kompiliert, so dass die Apps einfach verteilt werden konnten, ohne dass zusätzliche Softwarelizenzen verwaltet werden mussten. Das einjährige Projekt wurde von Computer Aids for Chemical Engineering (CACHE) finanziert, einer gemeinnützigen Organisation, die den Einsatz von Berechnungswerkzeugen in der chemischen Verfahrenstechnik fördert.

Abbildung 1. Ein Beispiel für eine von Voronov und seinen Studierenden entwickelte Simulations-App, mit der der Luftwiderstandsbeiwert eines Flugzeugs berechnet werden kann. Die Studierenden können die Ergebnisse der App mit einem Diagramm des Luftwiderstandsbeiwerts für Zylinder mit abgerundeter Nase vergleichen.

Ursprünglich plante Voronov die Entwicklung von Apps, die Lehrkräfte als visuelle Hilfsmittel bei der Präsentation grundlegender technischer Konzepte verwenden könnten. Als jedoch die COVID-19-Pandemie ausbrach, änderte sich der Charakter des Projekts. Als die Kurse vollständig ins Internet verlagert wurden, entstand für die NJIT-Lehrenden im Chemietechnik-Laborbereich der Bedarf nach Apps, welche die bis dahin im Labor durchgeführten Experimente modellierten. Solche Apps sollten die Präsenzarbeit im Labor ergänzen und in einigen Fällen sogar vollständig ersetzen.

Nachdem sie erfahren hatten, welche Arten von Laborgeräten die Lehrenden für ihre Kurse modellieren mussten, machten sich Voronov und seine Studierenden daran, die Simulations-Apps zum Leben zu erwecken.

Drei spezialisierte Apps im Fokus

Im Rahmen des CACHE-Projekts haben Roman Voronov und seine Studierenden 15 Simulations-Apps entwickelt (Ref. 2). Einige der Apps wurden für den Einsatz in speziellen ingenieurwissenschaftlichen Kursen und Praktika am NJIT entwickelt, können aber auch für jeden interessant sein, der grundlegende verfahrenstechnische Prozesse studiert. Bei der Diskussion über die Bedeutung der Simulationstechnologie für Laborpraktika betonte Voronov: „Im Labor können die Studierenden nach Anleitung experimentieren, aber die physikalischen Prozesse, die im Experiment ablaufen, verstehen sie besser durch Simulation."

Abbildung 2. Ein Bild der Orifice Flowmeter App.

Eine App, die Voronov und seine Studierenden entwickelt haben, kann zur Simulation von kompressiblen Fluiden in Rohren verwendet werden. Die App Orifice Flowmeter wurde speziell für ein Chemietechnik-Praktikum am NJIT entwickelt, in dem die Praktikantinnen und Praktikanten ein Experiment zur Strömung von Fluiden durchführen sollten. Dabei ging es um die Messung von Druckabfällen an mehreren Stellen in Rohren unterschiedlicher Länge. Mit der App, die dem eigentlichen Experiment nachempfunden ist, können die Lernenden die Geometrie der Rohre und die Eigenschaften der Fluide verändern, um zu sehen, wie sich dies auf die Ergebnisse auswirkt. Die App verfügt über eine 3D-Darstellung der Geschwindigkeit und des Drucks, so dass die Lernenden eine Visualisierung der physikalischen Phänomene erhalten, die im Prozess auftreten.

Abbildung 3. Ein Bild der Impeller Reactor App. Die App generiert eine CAD-Datei für einen 3D-gedruckten Impeller, den die Praktikantinnen und Praktikanten im Labor verwenden können, um die Simulationsergebnisse zu überprüfen.

Mit der App Impeller Reactor können Studierende die Reaktion zwischen zwei Spezies in einem nicht katalytischen Batch-Reaktor mit einem rotierenden scheibenförmigen Impeller simulieren. Die App vermittelt einen Einblick über die Auswirkungen einer Änderung der Abmessungen des Impellers auf die molare Konzentration, den Mol- und Massenanteil sowie die Massenkonzentrationen in einem Chargenreaktor. (Batch-Reaktoren werden häufig für die Entwicklung einer Vielzahl von Produkten in der Feinchemie, der pharmazeutischen Industrie und der Lebensmittelindustrie verwendet). Darüber hinaus umfasst die App die Modellierung des Rührwerks mit einem parametrischen Sweep. „Die Idee ist, dass die Ergebnisse die optimale Form und Größe des Impellers liefern“, erklärt Voronov. Auf der Grundlage der Simulationsergebnisse können die Studierenden eine CAD-Datei für einen 3D-gedruckten Impeller erstellen. Anschließend können sie das Bauteil ausdrucken und herausfinden, wie es sich in der Realität verhält.

Abbildung 4. Flow Around Car-App, die den Luftstrom über ein Auto simuliert. Am NJIT vergleichen die Studierenden die Ergebnisse dieser App mit der Fachliteratur.

Die App Flow Around Car, welche Voronov für einen NJIT-Kurs über Strömungsmechanik entwickelt hat, modelliert Luft, die an einem Auto vorbeiströmt. Das Verständnis dafür, wie Fluide Objekte umströmen, ist beispielsweise für die Auslegung von Festbetten, Filteranlagen und Wärmetauschern wichtig. Mit der App können die Studierenden die Luftverteilung auf einem Auto in Druckgrafiken und den Luftstrom, der über das Auto strömt, in Geschwindigkeitsplots analysieren.

Alle hier erwähnten und 12 weitere Apps können auf der Website des New Jersey Institute of Technology abgerufen werden (Ref. 3). (Die Ausführung der Apps erfordert eine kostenfreie Installation von COMSOL Runtime™ auf dem Betriebssystem des App-Benutzers.)

Eine preisgekrönte App

Viele von Roman Voronovs Studierenden am NJIT haben Simulationen in ihren späteren Berufen eingesetzt - und sogar Preise gewonnen. Vasilios Halkias, ein Absolvent des NJIT aus dem Jahr 2020 und einer von Voronovs ehemaligen Studenten, entwickelte beispielsweise eine App, die ihm den NAFEMS Student Award 2020 einbrachte (Ref. 4). Die preisgekrönte App simuliert Stofftransport, Wärmetransport und Reaktionskinetik in einem Rohrströmungsreaktor. Rohrströmungsreaktoren sind wichtig für die Entwicklung einer Vielzahl von Anwendungen in der Chemie.

Voronov glaubt, dass der Einsatz von Simulations-Apps einen Platz im Hörsaal haben wird, der über virtuelles und hybrides Lernen hinausgeht. „Ich denke, dass der Einsatz von Simulations-Apps den Studierenden ein grundlegendes Verständnis dafür vermittelt, was in dem System, das sie testen, vor sich geht. Es gibt ihnen einen anderen Blickwinkel und eine Menge Klarheit.“

Referenzen

  1. S. Maybin, “Busting the attention span myth,” BBC News, 2017. https://www.bbc.com/news/health-38896790
  2. "Development of Computational-Based Tools and Modules for Chemical Engineering Education," Computer Aids for Chemical Engineering, 2020. https://cache.org/computational-tools-development
  3. R. Voronov, "COMSOL Apps," New Jersey Institute of Technology, 2020. https://web.njit.edu/~rvoronov/comsol-apps/
  4. R. Tara, "Unable to Take Lab Course to Graduate, Student Turns to Simulation," Engineering.com, 2020. https://www.engineering.com/story/unable-to-take-lab-course-to-graduate-student-turns-to-simulation

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